Ich kann mich nicht wirklich von ihm trennen, aber ich spüre meinen zugeschnürten Hals und dass mir gleich die Tränen in die Augen schießen. Also "Tschüss!" Kurz und bündig - und raus.
Ich habe heute meinen Bruder im Wohnheim für Behinderte besucht. Eigentlich ist es ein schönes Wohnheim. Vor zwei Jahren neu renoviert und eröffnet. Große weite Gänge. Freundliche Räume. Das Personal sagt mir auch zu, nette Mitarbeiter.
Meine Eltern sind derzeit im Urlaub, endlich einmal weit weg. Sie trauen es sich, weil sie meinen Bruder gut versorgt wissen. Klar Abstriche müssen sie immer machen. Es ist halt nicht wie zu Hause. Meine Schwester sagt immer scherzhaft, dass unser Bruder wohl der bestgepflegteste Behinderte in ganz Deutschland sei. Nun ist er schon drei Wochen am Stück im Heim, weil meine Eltern ihn nicht zu den Wochenenden wie gewohnt nach Hause holen konnten.
Zuerst ignoriert er mich ein paar Minuten lang, fast als wolle er mir sagen: "Was willst du denn hier?" Oder seine Welten rutschen ineinander und er braucht eine Weile zu verstehen, wer vor ihm steht. Es hat mich schon ein wenig getroffen, aber nun gut, er hat sich ja auch nicht ausgesucht, ob ich komme oder nicht.
Dann machen wir einen kleinen Spaziergang in der Sonne, sitzen auf der Terrasse und er zeigt mir seine Photoalben. Seine Erinnerung an zu Hause und vergangenen Erlebnisse. Er kann nicht sprechen, so rede ich die ganze Zeit, versuche nachzuvollziehen, was er mir sagen will. Zwischendurch sagt er "Mama!". Neben Papa das einzige Wort, was er sagen kann. Ich erkläre ihm immer und immer wieder, dass Mama und Papa im Urlaub sind, ihn aber bestimmt nächstes Wochenende nach Hause holen. Für einen Menschen der kein Zeitverständnis hat ein schlechter Trost. Immer und immer wieder mache ich ihm Mut, flüstere ihm ins Ohr, drücke meine Stirn an seine: "Glaub mir, sie vermissen dich auch, und sie werden dich besuchen und holen. Du musst nur noch ein wenig warten!" Meine Stimme klingt zuversichtlich, das weiß ich, aber mein Herz wird schwerer und schwerer.
Als ich mich dann von ihm verabschiede bin ich traurig, traurig weil es ein so trostlose Situation ist. Er ist mit seinen 25 Jahren ein vollkommen unselbständiger Mensch, der sein Leben nicht selber gestalten kann, aber weiß dass es dort draußen so viel mehr gibt, als das Gelände des Heims. Er ist eingesperrt, kann sich nicht frei bewegen, ist darauf angewiesen, dass andere ihm diese Welt zeigen. Er kann noch nicht einmal selber entscheiden, was er essen will. Kann sich keine Karnevalskamelle selber öffnen, die da vor uns auf dem Tisch liegen. Er ist angewiesen darauf, dass andere ihm Zeit und Liebe schenken. Schenkt selber manchmal Zuneigung, wenn er einem durch das Haar wuschelt oder Sabberküsschen austeilt.
Ich kann nichts für ihn ändern, kann nur akzeptieren. Aber heute tut es mir wirklich in der Seele weh.